Der Stuhl
Inspiriert aus dem Film "Herz aus Glas" von Werner Herzog.
Fotoprojekt aus dem 4. Semester betreut von Herrn Marcus Kaiser 

Die folgenden Zeilen erzählen meine Geschichte. Sie ist weder spektakulär, noch außergewöhnlich. Was bedeutet zudem „außergewöhnlich“? Wer nimmt sich denn das Recht heraus zu entscheiden, was gewöhnlich ist und was nicht‽
Nach meiner Auffassung kommt es doch viel mehr auf das „Wie“ als auf das „Was“ bei einer guten Geschichte an.

Um ihnen, werter Leser, meinen vollen Respekt und Aufmerksamkeit darzubieten zu können, möchte ich am Anfang beginnen, damit sie die Möglichkeit haben, die darauf folgenden Ereignisse richtig ein- und zuordnen zu können.

Meine frühe Kindheit war sehr ruhig und unbeschwert ich wuchs etwas außerhalb eines klassischen bayrischen Dorfes in einer Familie mit einigen Geschwistern auf. Tatsächlich passierte es so, überhaupt nichts. Weder ich noch die Anderen hatten irgendwelche Vorstellungen, was aus uns werden sollte oder könnte. Viele Möglichkeiten gab es sowieso nicht. Im Sommer hörten wir verliebten Paaren zu, einmal erwischten wir sogar unseren Pfarrer, wie er sich heimlich mit Hildegard traf. Nicht nur Gott sieht alles.
Die Jahre vergingen, keine Ahnung wie viele, ich besuchte nie eine Schule und als Kind kommt einem alles wie eine Ewigkeit vor. Vielleicht waren es 1, 2 oder 300 Jahre. Keine Ahnung, was diese Zahlen bedeuten, ich schnappte sie auf und kann sie selber nicht einordnen.
Das Leben wie ich es kenne, sollte sich in einem Herbst voller Nässe und lausiger Kälte ändern. Es begann mit dem Tod meines Vaters. Beziehungsweiße, bis heute kann keiner sagen, was mit ihm passiert ist, an einem Morgen war er einfach nicht mehr da. Kurze Zeit später starb meine Mutter, irgendwas hatte sie befallen. Keiner wusste was es sein konnte und so wurde sie langsam von außen nach innen von kleinen weißen schleimigen Würmern aufgefressen.
So kam es, dass ich auf einmal ganz alleine war. Keiner kümmerte sich um mich, noch war es anscheinend irgendjemand wichtig, was mit mir passiert. Die ersten Jahre danach waren hart.
Ich tat einfach das, was ich schon immer gemacht habe, ich beobachtete und hörte zu. Ich sah, wie Männer nachts ein längliches Bündel eingerollt in Kartoffelsäcke vergruben, sonderbare Rituale zu Göttern fabriziert wurden, bei denen sich die Erwachsenen bis auf den Leib entkleideten, und wie von allen Geistern verlassen wild umher sprangen.
Am Tag spielten Kinder verstecken, manchmal durfte ich sogar mitmachen. Wenn ich so darüber nachdenke, ich war garnicht mal so schlecht. Tatsächlich strengte ich mich nicht einmal an. Jeder war es so gewohnt, mich zu übersehen, dass ich meist einfach nur da stand, auch wenn schon alle in ihren Häusern verschwunden waren.
Und dann war da noch Sebastian, mit dem auch keiner Reden wollte. Später erfuhr ich, dass er wohl als Junge beim Spielen seine kleine Schwester im Fluss ertränkt hatte. Er zeigte keinerlei Regung, sondern setzte sich mit seinen triefend nassen Klamotten an den Esstisch, verschlang seinen Brei, stand auf und beklagte sich bei seinem Vater, dass das Getreide nach Moder schmeckte. Beim letzten Sturm muss ein Teil des Daches vom Getreideschuppen abgedeckt worden sein, sodass Nässe und Feuchtigkeit die Vorräte für die unerbittlichen Winter selbst wie ein ausgehungerter Hund verschlang.  
Ich weiß heute nicht mehr warum, aber erst kam er mich nur besuchen, schaute, dass es mir gut ging und erzählte mir alles über sich. Ich war lange Zeit sehr unsicher und gleichzeitig auch dankbar, dass mir jemand so viel Beachtung zukommen ließ. Wahrscheinlich war es der Punkt der Einsamkeit, der uns beide verband. Eines Tages nahm er mich mit zu sich nachhause, bot mir an, dass ich dort bleiben könne bis ich wisse, wie es mit mir weitergehen soll.
Machen wir es kurz, es war der Anfang vom Ende. Wie jeder in unsrem Dorf trank auch er, man hatte regelrecht das Gefühl, dass man umgeben von Werwölfen war. Jeder hatte seine zwei Seiten, die eine dunkler als die Andere und man wusste nie welcher der Beiden ins Zimmer kam.
Spätestens nach dem vierten Krug war es endgültig vorbei.
Er schlug und hämmerte auf mich ein, dass ich sofort das Bewusstsein verlor.
Als ich irgendwann wieder zu mir kam, war mir immer noch schlecht und jeder Teil meines Körpers schmerzte so sehr, als ob man, es tut mir leid, doch mir fällt kein treffender Vergleich ein.
Ich konnte weder sehen noch hören selbst das Atmen fiel mir schwer. Irgendetwas drückte noch immer auf mein Gesicht.
Mein Zustand war so schlimm, dass ich sofort wieder die Orientierung verlor. Die Qualen waren unbeschreiblich, dass ich mir wünschte einfach zu verbrennen. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich mich nicht bewegt habe und einfach nur regungslos in der Ecke lag, saß oder wie man das auch immer nenne möchte. Mit Jahren und Zahlen kenne ich mich heute genauso wenig aus wie als Kind. Aber die „Zwölf Jahre lang sitzt du auf diesem Stuhl. Zwölf Jahre lang, zwölf Jahre lang schon zeige ich dir deine Schuhe.  Zwölf Jahre schon“
Der Stuhl
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